Dr. Carl Strutinski
Zwei Jahrhunderte Geologie
Von Abraham Gottlieb Werner zu Samuel Warren Carey
„Aufwallungs-Hypothese“ (Surge tectonics)
Als „Väter“ dieser Hypothese kann man die Meyerhoffs, Vater und Sohn (Howard A., 1899-1982 und Arthur A., 1928-1994) betrachten. Heutige Verfechter sind u.a. Irfan Taner,
Dong R. Choi und Christian N. Smoot. Die Hypothese entstand als eine Kritik an der Plattentektonik , ist aber gleichermaßen auch kritisch gegenüber der Erdexpansion eingestellt, da sie nicht bloß die Subduktion, sondern auch die Ozeanbodenspreizung verneint. Man könnte sie eigentlich als eine neue Variante der Kontraktionshypothese betrachten, da sie auch von einer Abkühlung des Erdkörpers ausgeht, die einerseits die so genannte Strictosphäre (d.h. den unter der Lithosphäre befindlichen oberen Mantel) kontinuierlich schrumpfen lässt, andererseits aber Stauchung in der Lithosphäre verursacht. Die zwischengelagerte Asthenosphäre wir als ein
‚level of no strain‘ (= spannungsfreie Schicht) betrachtet.
Für die Hypothese ist bezeichnend, dass sie im lithosphärischen Untergrund Magmenströme annimmt, die sich horizontal, also parallel zur Erdoberfläche, bewegen und als netzförmiges System von Kanälen organisiert sind in denen das Magma im Allgemeinen von West nach Ost strömt. Ausschlaggebend für die Annahme der vorherrschenden West-Ost-Strömung sind die mit ihrer Konvexität nach Osten weisenden Inselbögen zwischen Asien und Australien (Sunda-Banda-Bogen), Nord- und Südamerika (Antillenbogen) und zwischen Südamerika und der Antarktis (Süd-Sandwich-Bogen).
Die vorausgesetzten Strömungskanäle werden aus der darunter befindlichen Asthenosphäre gespeist. Das laminare Strömen nach dem Poiseuille-Gesetz ruft, gemäß der Hypothese, alle linienförmigen Strukturen innerhalb der Lithosphäre hervor (Bruch- und Spaltensysteme, Bänder hohen Wärmeflusses und die sie begleitenden Zonen von Mikroseismen), die im Grunde die Stromlinien des Strömens im Untergrund abbilden.
Periodisch soll das labile Gleichgewicht zwischen langsam schrumpfender Strictosphäre und starrer Lithosphäre gestört werden, was einen Kollaps der letzteren verursacht und das Einbrechen des Kanalsystems zur Folge hat. Dadurch kommt es zu einem „Aufwallen“ (=surge) des Magmas in den Kanälen und dem Erguß an die Oberfläche, während die einsinkenden Lithosphärenbruchstücke verfaltet und überschoben werden (siehe Abbildung). Es ist das Stadium der Tektogenese.
Globale Drall-Tektonik (Global Wrench Tectonics)
Der Autor dieser Hypothese, Karsten Storetvedt (geb. 1935), ist ein norwegischer Geophysiker, der sich auf dem Gebiet des Paläomagnetismus Verdienste erworben hat und anfangs zu den Verfechtern der Plattentektonik gehörte. Seine Hypothese, die er in den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwarf (Storetvedt, 1997), geht von einer Reinterpretation paläomagnetischer Daten aus, die ihn dazu veranlasste, das ganze theoretische Gerüst der Plattentektonik (Zusammenspiel zwischen Ozeanbodenspreizung und Subduktion) in Frage zu stellen.
Aus seiner Sicht, die einige Ideen der schon besprochenen Kontraktionshypothese sowie der Ozeanisierungshypothese Beloussovs übernimmt, ist die Erde aus einer kalten Staubwolke entstanden. In der Anfangsphase hat sich, durch magnetische und gravitative Differentiatiation allein, der eisenreiche Kern gebildet, während die undifferenzierte relativ dicke ‚Urkruste‘ eine granulitische/granitische Zusammensetzung hatte. Wohl infolge der in ihr konzentrierten radioaktiven Elemente, kam es zu ihrer ursprünglichen Aufheizung, wobei aber schon an der Wende Archaikum/Proterozoikum eine Abkühlung einsetzte. Diese bewirkte die Entstehung von Abkühlungsspalten, die – laut Storetvedt – als globales orthogonales Netzwerk in Erscheinung traten und seitdem eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Erdkruste spielen. Die Spalten waren anfangs Nord-Süd und – othogonal dazu – Ost-West ausgerichtet. Ein Großteil der ‚Transform-Störungen‘ der Plattentektonik, wie auch die Entstehung der Wadati-Benioff-Zonen werden auf die Existenz dieser Spalten zurückgeführt.
Vorwiegend ab dem Proterozoikum begann die Entgasung der tieferen Zonen der Erde, die nach Storetvedt den Motor der tektonischen Entwicklung der Erdkruste darstellt. Durch das Aufwärtsdringen unter hohem Druck befindlicher Gase werden immer wieder Teile der ‚Urkruste‘ emporgehoben und anschließend an ihrer Basis „ozeanisiert“. Dadurch wird letztere schwerer und sackt wieder ab. Diese pulsierende Tätigkeit käme dem Prinzip einer hydraulischen Pumpe nahe und verursache die etappenweise Vernichtung der ‚Urkruste‘, also der Kontinente, und deren fortschreitenden Ersatz durch ozeanische Becken und deren basischen Untergrund. Reste von kontinentaler Kruste in den Ozeanen zeugten, nach Storetvedt, für diesen Umwandlungsprozess.
Wegen der größeren Fliehkräfte, die in der äquatorialen Zone herrschen, finden auch die Massenverlagerungen aus der Tiefe bevorzugt in dieser Zone statt, weshalb sich hier langgezogene Tiefenbecken, die Geosynklinalen, herausbilden, die durch das Hervorquellen basaltischer Schmelzen charakterisiert sind. Die Tektonisierung und teilweise Heraushebung der Geosynklinalen erfolgt im Zuge ihrer Umwandlung in Transpressions-Zonen. Das sind Zonen, die durch den Druck zustande kommen, der ausgeübt wird wenn die kontinentalen Blöcke nördlich und südlich des Äquators infolge des Zusammenwirkens verschiedener Kräfte, darunter der Coriolis-Kraft, Drallbewegungen ausführen (daher der Name Drall-Tektonik) und sich dabei dem Äquator und gegenseitig nähern. Im Zuge dieser Bewegungen kommt auch großen Seitenverschiebungen eine bedeutende Rolle zu. Wegen der eher willkürlichen Verteilung der aus dem Mantel aufdringenden Materie, die die ‚Urkruste‘ stofflich umwandelt und neu strukturiert, bleiben noch weitgehend intakte Reste dieser ‚Urkruste‘ erhalten und zwar in den alten Schilden. Typische Merkmale dieser Gebiete sind ihre tiefreichenden Wurzeln. Die ungleichförmige Massenverlagerung ruft auch Änderungen der Position der Rotationsachse hervor, die logischerweise eine Polwanderung und eine entsprechende Anpassung der Lage der Geosynklinalgürtel zur Folge hat. So hat sich der Nordpol, gemäß den paläomagnetischen Daten, seit dem unteren Karbon mehr oder weniger entlang des heutigen 1800-Meridians vom Nordpazifik zur heutigen Lage hin bewegt (Bild). Dieser Bewegung entsprach die fortschreitende Entfernung der Geosynklinalgebiete – je nach Alter – aus ihrer ursprünglichen äquatorialen Lage.
Daraufhin folgt eine neue Phase der relativen Ruhe in der ein neues Kanalsystem aufgebaut wird beziehungsweise Teile des alten wieder entstehen. Dieses lang anhaltende Stadium während dem u.a. die großen Ozeanbecken gebildet werden ist das Stadium der Taphrogenese.
Die wichtigste Kritik, die man gegen diese sich auf wohl bekannte physikalische Gesetzte (Newton, Pascal, Stokes, Poiseuille, Coulomb-Navier-Theorie) berufende Hypothese vorbringen kann, ist der Umstand, dass sie trotz vielfacher Argumente, die dafür sprechen, die Ozeanbodenspreizung und infolgedessen auch die Kontinentverschiebung Wegeners nicht anerkennt. Ungeachtet des Umstandes, dass sie Strömungen im Untergrund annehmen, erkennen die Verfechter der Hypothese keine Lateralverschiebungen größeren Ausmaßes innerhalb der Lithosphäre an. Dagegen befürworten sie eine schwer zu erklärende Verschluckung von Krusteteilen entlang von Bruchsystemen, die an die Subduktion der Plattentektoniker erinnert.
Positiv zu bewerten ist bei dieser Hypothese der Umstand, dass sie, anhand der angenommenen Strömungen, Strukturen wie die weiter oben angeführten Inselbögen oder gewundene Gebirgsstränge, wie beispielsweise den Karpathenbogen, glaubhafter zu erklären vermag als es die Plattentektonik tut.
Die fortwährende Zufuhr von Mantelmaterial zur Oberfläche hin bewirkt laut Hypothese eine schrittweise Abnahme des Trägheitsmoments des Erdkörpers, mit ein Grund – neben dem Einfluss der durch den Mond ausgelösten Gezeiten – weshalb die Rotationsgeschwindigkeit der Erde abnimmt. Die weiter oben erwähnte pulsierende Tätigkeit hat jedoch zur Folge, dass die im großen Ganzen abnehmende Rotationsgeschwindigkeit periodisch von Phasen erhöhter Geschwindigkeit unterbrochen wird.
Die wichtigsten Einwände, die man gegenüber der Hypothese der Globalen Drall-Tektonik vorbringen kann, sind im Wesentlichen:
a. Sie erklärt äußerst unbefriedigend weshalb die großen Ozeane sich vorwiegend auf der Südhalbkugel ausgebreitet haben, wo doch vorausgesetzt wird (siehe weiter oben), dass die bedeutendste Materialzufuhr und damit Erosion der ‚Urkruste‘ entlang der Äquatorialzone stattfindet. Schon der Umstand, dass – ohne Subduktion zu bemühen – basaltische bzw. ophiolitische Formationen in den Geosynklinaltrögen in verschwindend kleiner Menge anwesend waren, stellt die Argumentation Storetvedts ernsthaft in Frage.
b. Wenig überzeugend ist, andererseits, die Erklärung der Schwankungen in der Abnahme der Rotationsgeschwindigkeit durch die Annahme, dass „ozeanisierte“ Kruste beispielsweise entlang von Benioff-Zonen absinkt und also das Trägheitsmoment der Erde wieder vergrößert. Angenommen es findet ein ‚Aufgehen‘ der ‚Urkruste‘ im basischen Untergrund statt, bleibt diese als Masse trotzdem erhalten und trägt zu einer Abnahme der Dichte dieses sie einverleibenden Untergrunds bei, weshalb er schon aus diesem Grund nicht wieder absinken kann, von den implizierten Raumproblemen ganz abgesehen.
c. Die Gleichstellung mittelozeanischer Rücken mit den Tektogenen kontinentaler Kruste, die Storetvedt vornimmt, ist alles andere als überzeugend. Besonders die zentrale Position der Rücken innerhalb der ozeanischen Becken kann auf diese Weise keinesfalls gerechtfertigt werden, weshalb die Idee der Ozeanbodenspreizung die bessere Erklärung liefert.
Dieser Mängel ungeachtet, kann die Hypothese für sich in Anspruch nehmen, dass sie die Idee der Geosynklinalen, als langgezogenen Senkungsstrukturen, rehabilitiert, die Entstehung der Tektogene entlang der Äquatorialzonen auch anhand paläomagnetischer Daten untermauert und in ihrer Entwicklung auf die Wichtigkeit von Seitenverschiebungen hinweist. In diesen Hinsichten – aber auch nur in diesen – knüpft die Hypothese an die Carey-Variante der Expansionshypothese an.
Die Abbildung zeigt im Profil einen Strömungskanal kurz bevor (A) und nach dem Einbrechen seines Daches (B) während der Tektogenese. Anschaulich wird gezeigt, wie ein Gemenge (= melange) verschiedener Gesteinstypen aus unterschiedlichen Tiefen zustande kommt und wie sich große Falten und Überschiebungen bilden können.
(Aus: Meyerhoff et al., 1992 mit Genehmigung des Herausgebers)
Rechts: Die Wanderung des Nordpols anhand der reinterpretierten paläomagnetischen Daten seit dem mittleren Paläozoikum. LC – unteres Karbon; P – Perm; LT – unteres Tertiär; UT – oberes Tertiär.
Links: Die entsprechende Verlagerung des Äquators auf der „atlantischen Seite“ der Erde gemäß den paläoklimatischen Daten Wegeners (1929). Lage des Äquators während des Karbons (C), Perms (P) und unteren Tertiärs (LT).
(Die Graphik wurde 2015 freundlicherweise von Storetvedt zur Verfügung gestellt)